Am ersten Sommertag des Jahres fuhren wir nach Quincy, Susann und ich. Drei Stunden von Zürich bis Genève Aéroport, dann fünfzig Minuten mit dem Auto hoch in die Hügel des Département Haute-Savoie. Hier wird uns der Künstler Yves Berger seine Malerei zeigen. Er holt die parat gestellten Leinwände aus dem ehemaligen Heustock, in dem sich sein Atelier, eine kleine Druckwerkstatt und das Lager von Unzähligen von Werken befinden, und hängt sie an die Wand, draussen vor der grossen Scheunentür. Wir besprechen Bildkompositionen, während Traktor, Motorrad, PW die kleine Dorfstrasse entlang vorbeifahren, und eine Fahrerin winkt oder ein Fahrer ruft „Salut, Yves, ca va?“ Im 100 Seelendorf Quincy, wo John Bergers Sohn mit seiner Familie lebt, kennt jede jeden. Das Wohnhaus des Künstlers, eigenhändig renoviert, der Garten blumig, das Gemüse noch zart um diese Jahreszeit auf 800 Höhenmetern, unterm Sonnenschirm ein Holztisch, am Eingang eine Baumhütte. Die paar Häuser sind umgeben von bewaldeten Hügeln, ziemlich hoch, ziemlich grün. Bild um Bild hängt der Künstler an diese Holzwand, draussen vor der Tür, Portraits zumeist, kleine, grosse. Darauf sind Figuren, Gesten, Mimik zu sehen, die zurückhaltend wirken, scheu beinahe, aber mit gezieltem Blick, fragend, fordernd geradezu, und wenn man länger hinschaut – und man muss lange hinschauen – taucht plötzlich weiteres auf, weitere .... Gesichter, kann man das so nennen? Schatten eher sind es, Umrisse, die zusehends im wahrsten Sinn des Wortes zu Wesen werden und, einmal erkannt, selbstverständlich scheinen, kompositorisch. Sie dringen durch Malschichten und formen sich zu einem weiteren, einem nächsten Leib. Sind das Menschen oder Tiere? Tot oder lebendig? Körper oder Geist? Mit Körperabdrücken auf der Leinwand beginnen Yves Arbeiten oft. Daraus entsteht das Bild. Das Bildpersonal schäle sich im Malprozess aus den Farbschichten heraus, erläutert der Künstler, absichtslos entstünden die Figurengruppen. So erlebt es auch die Betrachterin: Plötzlich ändert sich ein vormals grüner Hut? Stoff? Schein? am Hinterkopf einer Figur, wird zum Durchblick in eine weitere Bildebene, und so wird der Bildraum also vertieft, eine Landschaft im Hintergrund evozierend. Wir schauen, lange, reden, wenig, ruhig, über diese stumme Familie von Mischwesen, die solcherart auf der Leinwand aufscheinen, sprechen über Träume, Mythen, Mystik. Und später, beim Kaffee im Garten, über die praktischen Fragen: wie viele Werke wollen wir zeigen, wie kombinieren? Wer macht Budgets für die Eingaben, wer entwirft die Einladungskarte? Zwischen die Beine schmiegen sich ab und zu zwei Siamkatzen. Ich male nur im Winter, sagt Yves. Im Sommer gibt es anderes zu tun. Beim Heuen mitanpacken, das Haus renovieren, das Archiv des Vaters betreuen. Wenn es Herbst wird, kommt die Lust, das im Sommer gedanklich Gesammelte zu verarbeiten. Die Winter sind lang in den Savoyischen Alpen.
Um 17h sind wir zurück am Flughafen. Die Bahnhofshalle ist komplett leer. Im Zug sagt uns die Billetkontrolleurin, dass die Leute in Genf gebeten worden seien, zu Hause zu bleiben: Der Showdown der Weltenhändler Biden und Putin steht bevor. Es geht uns seltsam nichts an.
BodyTalk I Die Doppelausstellung mit Pat Treyer und Yves Berger läuft vom 17. September - 10. Oktober 2021 in der Villa Renata